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Muss ich arbeiten, obwohl ich krankge­schrieben bin?

Ich bin als Finanzfachfrau tätig. Ich hatte einen Sportunfall und musste am Fuss operiert werden. Deshalb bin ich für zwei bis drei Wochen zu 100 Prozent krankge­schrieben. Mein Arbeitgeber fin­det, dass ich im Homeoffice ar­beiten könnte. Bin ich dazu verpflichtet, obwohl ich 100 Pro­zent krankgeschrieben bin?
Wenn eine Arbeitnehmerin unver­schuldet an der Arbeitsleistung ver­hindert ist (sei es aufgrund einer Krankheit, eines Unfalls oder der Er­füllung einer gesetzlichen Pflicht), ge­währt das Gesetz aus sozialen Grün­den für eine beschränkte Zeit weiterhin den Lohnanspruch, obwohl keine Arbeit geleistet wird. Aus ar­beitsrechtlicher Sicht liegt der Fokus aber nicht auf der Ursache der Krank­heit oder des Unfalls, sondern auf der Frage, in welchem Ausmass die Arbeit nicht ausgeführt werden kann. Es ist also zu fragen, ob die Krankheit oder die Unfallfolgen die Person daran hin­dern, ihre vertragliche Leistung ganz oder teilweise zu erfüllen.

Umfang der Arbeitspflicht
Die vertragliche Leistungspflicht ist im Arbeitsvertrag meistens nur vage und sehr allgemein umschrieben. Deshalb ist die konkrete Umsetzung in der Pra­xis entscheidend. Die Arbeitspflicht umfasst alle Arbeiten, die üblicher­weise zu der betreffenden Stelle gehö­ren. Der Arbeitgeber kann sein Wei­sungsrecht in diesem Rahmen ausüben und so die Arbeitspflicht konkretisieren. Die (unverschuldete) Arbeitsverhinderung ist deshalb nicht schon gegeben, wenn die Arbeitneh­merin ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr ausführen kann. Eine relevante Arbeitsverhinderung liegt erst vor, wenn sie auch andere vom Arbeitge­ber ihr angewiesene und ihr zumutba­re Arbeit nicht mehr ausüben kann. Nehmen wir als Beispiel einen gebro­chenen Mittelfinger. Wenn die Person in einer Überwachungsfirma (Patrouil­len- und Verkehrsleitdienst) arbeitet, so ist diese Person nicht mehr an der Arbeit verhindert, sobald der Finger medizinisch versorgt und ruhiggestellt ist. Diese Person kann trotz gebroche­nem Mittelfinger auf Patrouille gehen oder den Verkehr bei Baustellen umlei­ten. Das ist zumutbar. Bricht sich aber ein Konzertpianist einen Mittelfinger, dann ist völlig klar, dass er keine Ar­beit leisten kann, bis der Finger völlig ausgeheilt und die notwendige Beweg­lichkeit wieder vorhanden ist.

Rechtliche und medizinische Sicht
Ihre konkrete Situation ist also aus zwei Blickwinkeln zu prüfen: Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist die Weisung des Arbeitgebers, dass Sie vorüberge­hend auch Arbeiten im Homeoffice verrichten sollen, grundsätzlich zuläs­sig. Denn er ändert damit Ihren Ar­beitsbereich nicht. Aus medizinischer Sicht ist zu beurteilen, in welchem Um­fang Sie solche Arbeiten ausführen dürfen. Wenn es zum Beispiel notwen­dig ist, dass Sie mehrheitlich liegen und den Fuss auch in der Liegeposition hochlagern müssen, wäre Homeoffice medizinisch wohl ausgeschlossen. Dürfen Sie aber sitzen und sich auch bewegen, so wäre Homeoffice in einem grösseren Umfang zumutbar.

Erwähnenswert ist noch die Koordina­tion mit der Unfalltaggeldversicherung. Wesentliche Änderungen der Arbeitstätigkeit müssen Sie und Ihr Arbeitgeber melden. Denn sonst be­steht die Gefahr, dass Sie (bzw. Ihr Arbeitgeber) Taggeldleistungen erhal­ten, obwohl Sie in der gleichen Zeit gearbeitet haben. Das wäre unzulässig.

Melanie Friedrich, Rechtsanwältin und Notarin, Fachanwältin SAV Familienrecht

Dieser Beitrag erschien als Ratgeber Recht in der Surseer Woche vom 17. November 2022.
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