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Erhalte ich trotz Volljährigkeit noch Unterhalt?

Ich (18 Jahre alt) werde im Sommer meine Ausbildung zur Kauffrau abschliessen. Bereits bei Lehrantritt habe ich meinen geschiedenen Eltern mitgeteilt, dass ich nach dem Lehrabschluss die Berufsmaturität erlangen möchte, um anschliessend ein Studium zu absolvieren. Mein unterhaltspflichtiger Vater hat mir nun mitgeteilt, dass er die Unterhaltszahlungen nach Abschluss meiner Lehre einstellen werde. Ist dies zulässig?
Das Gesetz sieht vor, dass die Unterhaltspflicht grundsätzlich mit der Volljährigkeit des Kindes endet. Hat das Kind in diesem Zeitpunkt jedoch noch keine angemessene Ausbildung, so dauert die Unterhaltspflicht ausnahmsweise weiter an, bis das Kind eine ordentliche Ausbildung abgeschlossen hat. Obwohl als Ausnahme formuliert, kommt dieser Fall sehr häufig vor. Dies haben auch die Gerichte erkannt, weshalb die Kindes­unterhaltsbeiträge in Scheidungsurteilen regelmässig über die Volljährigkeit der Kinder hinaus festgesetzt werden.

Dennoch stellt sich in der Praxis immer wieder die Frage, wann das Kind überhaupt über eine angemessene Ausbildung verfügt und was darunter zu verstehen ist. Angemessen ist eine Ausbildung, wenn das geplante und realistische Ausbildungsziel des Kindes erreicht ist. Weiter hängt die Frage aber auch von den Absprachen ab, die das Kind mit seinen Eltern in Bezug auf die angestrebte Ausbildung getroffen hat. Schliesslich ist zur Beantwortung der Frage entscheidend, ob reelle Chancen bestehen, mit der vorhandenen Ausbildung in den Berufsmarkt einzusteigen. Nach einer Lehre ist dies grundsätzlich der Fall.

In gewissen Studiengängen kann bereits mit einem Bachelor-Abschluss Fuss in der Arbeitswelt gefasst werden, in anderen hingegen braucht es zusätzlich einen Master. Ob also eine angemessene Ausbildung vorliegt oder nicht, hängt stark vom konkreten Einzelfall ab.

Ihrer Frage kann ich entnehmen, dass bereits zu Beginn der Lehre geplant und mit Ihren Eltern abgesprochen war, die Berufsmaturität zu erlangen und anschliessend ein Studium zu absolvieren. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung handelt es sich dabei nicht um eine Zweitausbildung, sondern um eine die Grundausbildung erweiternde und vertiefende Ausbildung. Damit ist der Volljährigenunterhalt grundsätzlich nach wie vor geschuldet.

Dennoch muss immer auch Rücksicht auf die finanzielle Situation des Unterhaltsschuldners genommen werden. Das heisst, dass der unterhaltspflichtige Elternteil über die finanziellen Möglichkeiten verfügen muss, um den Volljährigenunterhalt bezahlen zu können. Da ich die finanziellen Verhältnisse Ihres Vaters nicht kenne, kann ich darüber keine Auskunft geben. Schliesslich ist ebenfalls massgebend, ob es Ihnen nicht möglich wäre, den Unterhalt aus eigenem Arbeitserwerb oder anderen Mitteln zu bestreiten. Dies ist jedoch nur selten der Fall.

Sofern im Scheidungsurteil Ihrer Eltern ein Unterhaltsbeitrag für Sie über Ihre Volljährigkeit hinaus festgesetzt wurde und Ihr Vater keine Abänderungsklage bei Gericht anhängig gemacht hat, ist er weiterhin unterhaltspflichtig. Sollten Sie sich mit Ihrem Vater über die Zahlungen nicht einigen können und er diese einstellen, können Sie die Betreibung gegen ihn einleiten. Sollte das Scheidungsurteil Ihrer Eltern hingegen keine Unterhaltsbeiträge über die Volljährigkeit hinaus festlegen, so sind beide Elternteile im Rahmen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit unterhaltspflichtig, womit Sie mit Ihren Eltern gemeinsam eine Lösung anzustreben haben. Gelingt dies nicht, so müssen Sie ein Schlichtungsgesuch einreichen. 

Chantal Bösiger, Rechtsanwältin

Dieser Beitrag erschien als Ratgeber Recht in der Surseer Woche vom 2. Juni 2022.
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