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Muss ich nach der Scheidung wieder arbeiten?

Ich bin 49 Jahre alt, lebe von meinem Mann getrennt und erhalte von ihm Unterhalt. Während der Ehe habe ich unsere beiden mittlerweile volljährigen Kinder betreut. Ausser Haus habe ich seither nicht mehr gearbeitet. Muss ich nach der Scheidung wieder arbeiten gehen?
Nach einer Scheidung gilt das Prinzip der Eigenversorgung, wonach jeder Ehegatte selber für seinen Unterhalt aufkommen muss. Mit anderen Worten besteht eine Verpflichtung zur Wiederaufnahme der Erwerbsarbeit. Ein Unterhaltsbeitrag kann nur verlangt werden, wenn die Wiederaufnahme einer Erwerbsarbeit unzumutbar ist.

Aufgabe der «45er-Regel»
Bis vor Kurzem beurteilte das Bundesgericht die Frage der Zumutbarkeit des Wiedereinstiegs nach der sogenannten «45er-Regel». Diese besagte, dass einem Ehegatten die Aufnahme einer Erwerbsarbeit nicht mehr zuzumuten ist, wenn er während der Ehe nicht berufstätig war und zum Zeitpunkt der Scheidung das 45. Altersjahr bereits erreicht hatte. In diesen Fällen musste der andere Ehegatte auch nach der Scheidung Unterhaltsbeiträge bezahlen. Die kantonalen Gerichte hatten diese starre Altersgrenze bereits früher aufgeweicht und auf rund 50 Jahre angehoben. Vor wenigen Monaten hat das Bundesgericht die fixe Regel endgültig aufgehoben. Sie sei nicht mehr zeitgemäss und werde dem Einzelfall zu wenig gerecht.

Neue Kriterien
Neu ist stets von der Zumutbarkeit einer Erwerbsarbeit auszugehen, soweit keine Hinderungsgründe wie beispielsweise Kinderbetreuungspflichten vorliegen. Es muss in jedem Einzelfall konkret geprüft werden, ob ein Wiedereinstieg ins Arbeitsleben möglich ist. Massgebend sind dabei gemäss Bundesgericht die folgenden Kriterien: Alter, Gesundheit, sprachliche Kenntnisse, bisherige Tätigkeiten, absolvierte Aus- und Weiterbildungen, persönliche und geografische Flexibilität sowie die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Das Alter ist und bleibt folglich ein entscheidendes Kriterium für die Beurteilung der Zumutbarkeit, aber nicht mehr im Sinne einer starren Regel.

Einzelfallbeurteilung
Ob Sie nach der Scheidung wieder arbeiten gehen müssen, lässt sich daher nicht mehr abstrakt aufgrund Ihres Alters beantworten. Es kommt vielmehr darauf an, welche Möglichkeiten Ihnen unter Berücksichtigung der erwähnten Kriterien tatsächlich offenstehen. Falls Ihnen die Aufnahme einer auswärtigen Arbeit aufgrund dieser Kriterien möglich ist, gilt neu der Grundsatz, dass diese auch zumutbar ist. In diesem Umfang wird Ihnen ein eigenes Einkommen angerechnet, und es besteht kein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt.

Ausnahmen vom Grundsatz
Gemäss Bundesgericht sind Ausnahmen in begründeten Einzelfällen denkbar. Insbesondere wenn ein Ehegatte kurz vor der Pension steht – was bei Ihnen aber nicht der Fall ist. Die Aufnahme einer Erwerbsarbeit ist gemäss Bundesgericht auch dann unzumutbar, wenn die Ehe das Leben eines Ehegatten in entscheidender Weise geprägt hat. Zum Beispiel, wenn er auf die Verfolgung einer eigenen Karriere verzichtet und sich stattdessen um Haushalt und Kinder gekümmert hat, wodurch es dem anderen Ehegatten möglich war beruflich weiterzukommen und ein so hohes Einkommen zu erzielen, mit dem sich problemlos auch zwei Haushalte finanzieren lassen. Sollte bei Ihnen eine solche Konstellation vorliegen, würde die Zumutbarkeit des Wiedereinstiegs allenfalls verneint.

Melanie Friedrich, Rechtswältin und Notarin

Dieser Beitrag erschien als Ratgeber Recht in der Surseer Woche vom 15. April 2021.
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